Eberswalde. Sehr dahin gestreckt kommt einem diese Stadt vor, wenn man sich über Finowfurt und dem Ortsteil Finow dem Stadtzentrum nähert. Auf und ab, wie auf dem Rücken eines Drachen. Lange, bevor man in das Herz der Stadt vordringt, kann man, von Finow kommend, rechts abbiegen. Kurz hinter einer belanglosen Ansammlung von Billiganbieter- und Schnellreifenwechselarchitektur, führt der Weg zwischen recht unsortiert aufgestellten Häusern aus verschiedensten Zeitläufen zu einer Straße, die wie ein Tarkowskischer Weg in ein seltsames Nirgendwo zu führen scheint. Dann noch einmal rechts und wir erkennen dieses Nirgendwo als das „Brandenburgische Viertel“. Ein Nirgendwo, weil am Reißbrett entstanden und daher unorganisch, nicht gewachsen, sondern hingestellt, rechteckige Schachteln aus Fertigbetonsegmenten, die einmal verleimt und gestrichen, zu Wohnungen ausgerufen wurden. 1978 als „Max Reimann“ Wohngebiet für 15.000 Menschen erschaffen. Schlafkästen ohne gewachsene Strukturen, ohne einen gemeinsamen Puls, aber „modern“, weil billig und dennoch hochbegehrt.
Das „Max Reimann“ Wohngebiet wurde nachwendisch in „Brandenburgisches Viertel“ umbenannt und recht schnell mit dem Zusatzetikett „sozialer Brennpunkt“ versehen. Der Mensch steht hier nach wie vor zurück. Sicherlich, es ist nicht immer einfach mit ihm, aber aufgeben darf man ihn nicht, denn viele haben sich hier eingerichtet und lieben ihren „Brennpunkt“ der eben auch Mittelpunkt ist. Die Stadtoberen und auch die Landesregierung haben dies erkannt und ein millionenschweres Entwicklungspaket für dieses Viertel geschnürt.
Eine kleine Gruppe hat nun schon vor den Taten der „Großen“, Zuneigung, Wärme, Botanik und Gespräch in diese Betonwüste getragen. Nein, nicht alles ist dort Beton, denn ein kleiner Grünstreifen versucht sich zu behaupten. Einige wenige Bäume, einige wenige Bänke und sehr wenige Menschen markieren diesen Flecken. Kinder gelegentlich, die in einem abgegrenzten und hochumzäunten Minifußballplatz auf Gummi, deshalb umgangssprachlich „Offgommi“ genannt, „Auf Gummi“, das Spiel spielen, dass manchen hochbegabten Jugendlichen aus seinem „Brennpunkt“ hinausgeschleudert hat in die große Welt des Fußballs, dem Sportgott des Universums.
Der wenige Rasen ist so hoch verdichtet, dass er eigentlich grüner Beton ist. Weder der Boden noch die Menschen sind hier locker. Was soll hier wachsen? Was kann hier wachsen? Und nicht zuletzt was darf hier wachsen?Aber kommen wir zurück zur kleinen Gruppe. Sie besteht aus Menschen, die hier leben, Afghanen, Afrikanern, Deutschen und etlichen weiteren Nationalitäten und Menschen die sich von außerhalb dazugesellt haben. Letztere sind die, die sich in das „Brandenburgische Viertel“ im wahrsten Sinne des Wortbegriffs „hineingepflanzt“ haben, mit einem Walnußhain, um nur ein Beispiel zu nennen, auf der kleinen Anhöhe des Rasenrechtecks, vormals etwas überzogen Park genannt. Letztere müssten nicht hier sein, wollen aber. Angeführt wird der von außen kommende Haufen von dem „Kurzen“, der alle kennt und alle zusammenbringt. Egal ob aus dem „Brandenburgischen Viertel“ oder den restlichen Vierteln der kleinen Stadt.
Früh ist der Kurze schon da, mit Bierbänken, großen Schirmen und Verpflegung für den ganzen Tag. Helfende Hände allerorten, es ist frisch, herbstlich kühl, aber das Vorhaben wärmt.
Der Kurze dirigiert. Zylinder auf dem Kopf. Mütze darunter. Eine Sonne um den Hals. Ein Tee- und Suppenstand wird von einem wertvollen Unterstützer errichtet, dazu gibt es Massagen für Verspannte. Der Geräuschpegel steigt. Geflaxe, gedankliches Mäandern, Räsonieren, Sprachen deren Herkunft schwer zu deuten sind, Lachen, Loslegen wollen. Die afghanischen Freunde kommen dazu. Sie begleiten all das hier auf „Offgommi“ von Anfang an. Sie gießen die Pflanzungen unter der Woche, schützen und beäugen den Wuchs. Großes gärtnerisches Verständnis. Anlage eines Vierecks mittels Bänken, im Zentrum eine Feuerschale. Wärmende Gespräche am wärmenden Feuer. Links und rechts die massiven Betonriegel in ihrer massigen Vieläugigkeit.
Schutz oder Bedrohung? Manche lösen sich aus ihren Wohnungen, kommen dazu, wollen helfen, da sie sehen, dass es etwas zu tun gibt. Schubkarren werden bewegt, Gartengeräte verteilt, Pflanzbeete ausgehoben in diesem harten Geviert, ein Wassertank befüllt und immer mehr kommen dazu, der Choreograph mit seiner schwedischen Primaballerina, ein Mann mit einem roten Anhänger und einem roten Zuggefährt, scherzhaft „Der Regisseur“ genannt, da er immer überlegt wie man’s anrichten könnte, sich aber nie erklärt. Immerhin funktioniert er den Anhänger zur Künstlergarderobe um, die prima Ballerina, nimmt’s dankend an. Hölderlinprobe im Walnußhain mit einem Schauspielstudenten. „Der Regisseur“ verlangt Änderungen, Wiederholungen und „sich Zeit zu nehmen“.
Irgendwann fliegen die Worte wie Laub durch den Hain. Alle werden von dem Kurzen immer wieder daran erinnert, dass auch noch Halloween sei. Im Ursprunge irisch, was aber niemanden interessiert, am ehesten noch die Kürbissuppe, die der wertvolle Unterstützer mit Hingabe zubereitet hat. Musikanten treffen ein, Schlagwerker, die sich sogleich auf dem Hügel platzieren, ähnlich Trommlern auf Galeeren die ihren angestammten Platz besitzen, und alles überblicken müssen. Unmittelbar fangen Sie an dem ganzen Geschehen einen Rhythmus zu verleihen, dem sich alle fügen, anschmiegen oder bewußt folgen.Kinder, immer mehr Kinder, verständig und interessiert, wollen beteiligt werden, wollen Aufgaben und mit großem Ernst sind sie dabei. „Der Regisseur“, erzählt vom Tode des neunzigjährigen Sean Connery. Schweigeminute.
Nach fünfundvierzig Sekunden reißt dem Kurzen der Geduldsfaden. Er dirigiert wieder. Der eine dies, der andere das. Fragt jemand worum es geht, dann immer um „Weg des Wassers“. Darum geht’s. Aberhunderte Blumenzwiebeln kommen unter die Leute. Auf hohen Stelzen verteilt der Choreograph die kostbare Saat, die im kommenden Frühjahr zur Freude aller aufgehen soll.Die Ballerina findet es prima und tanzt in die braunen Augen der Beete mit spitzem Fuße die rechten Vertiefungen für die zukünftige Pracht. Die Kinder, vor allem sie, voll Andacht in der Beäugung des Geschehens, mit stummem, inneren Applause ob der Vorgänge. Dann freudiges Abbetteln der Zwiebeln beim Stelzenmann und fröhliches Verbergen der Früchte, immer da, wo die Primaballerina wieder eine Vertiefung gesetzt. Sie, von ihren Eltern in Schweden Siri benamt, wird hier in palindromscher Manier zur Iris, die nun tatsächlich zum Zentrum des Auges avanciert und an sie und die eifrigen Kinderseelen wird man denken, wenn all die Beete aufgegangen sein werden und wie Augen in den Himmel blicken werden. Und „Offgommi“ wird ein Ort werden, der die Seele rührt, zumindest derjenigen die wissen mit welcher Wärme und Liebe die Primaballerina und ihre Kinder die blühende Zukunft gepflanzt haben.
Der Kurze entläßt auf seiner Trompete einen Appell, schon kommt einer angeflitzt der zu einer Gruppe von Schlachtennachspielern gehört und sich durch den militärisch wirkenden Appell angesprochen fühlt. Kurzes Gespräch. Was tun? Er endet am Schubkarren, und das mit großer Freude und Begabung.Der Choreograph ist von seinen Stelzen herabgestiegen und verteilt an alle Heranströmenden Herbstblätter. Die Primaballerina zertanzt ein, zwei riesige Strohballen, während Afrikaner und Afghanen die Ballen gefühlvoll die kleine Anhöhe hinunter bewegen. Trompetentöne dazu. Schlagwerk ebenfalls. Gärtner, Gärtnerinnen, Kräuterweiber und Botanikbegeisterte werkeln, schieben, zerren, zurren, graben, hieven, senken und pflanzen an diesem Tag das Ihrige zum Übrigen. Schön zu sehen. Schön zu erleben. Warm umflutet das Miteinander die, die Miteinander. Ein Akkordeonist spielt auf, man entrückt. Wasser strömt in ein natürliches Becken um rasch zu versickern. Das Akkordeon versetzt in schwebende Stimmung.
„Der Kurze“ singt „Hänschenklein“. Das Akkordeon begleitet. So hat man’s noch nie gehört. Ernst plötzlich und entrückt und alle drei Strophen dazu. Nur so macht es Sinn.Auch das Licht entrückt und in diese Entrückung hinein fliegen wir alle mit unserem Herbstlaub, ein Geschenk des Choreographen, durch den Hain und durch die Luft. Kleine Sonnen flimmern im Dunkel auf und ab wie manches Blatt, werden zu leuchtenden Sternen, und heiter nimmt man Abschied von einem kleinen Teil der Welt, den wir uns alle zusammen für einen Tag erobert haben, um fröhlich zu sein, und um den Kindern zuzusehen wie sie die Welt übernehmen.
von Peer Martiny