… ihr nur, habt der Eroberung recht. Eine Hölderlin-Begegnung in Heidelberg.

Kurz berichtet von Marco Albrecht.

Heidelberg, 23.04.2022

Die Sonne scheint über der Altstadt von Heidelberg, und die Hauptstraße ist voller Menschen. Es ist 13.30 Uhr und vor dem Kino „Gloria“ treffen sich die selbsternannten „Helden Hölderlins“, angestiftet von Steffen „Schortie“ Scheumann und seinen skandinavischen Gästen, dem Philosophen Knut Saanum, dem Übersetzer Lars Holm-Hansen und dem Theatermacher Harald Vallgarda. Der harte Kern der Hölderlin-Leser an diesem Wochenende.

Vor dem Kino eine wunderbare Köstlichkeit … unerwartet … Carola Noack, die „Madame Kuvèl“ von Heidelberg (für Ortsfremde: die erste Patisserie der Stadt) lädt zur Verkostung der neuen Kreation „Hölderlin-Trüffel“ ein. Durch Forschungen in ihrer Familiengeschichte wurde sie inspiriert zu Weichselkirsche und dunkler Schokolade … eine Gaumenfreude.

Aber auch die wundersame Mitteilung, dass sie aus dem verzweigten Familienstamm der Gontards stammt … also jener Familie, jener Susette, ohne die Hölderlin nie seine Diotima gefunden hätte.

Sofort zündet die Idee, diese Verbindung, dieses Familienarchiv zu erforschen, zu sichten und mit Hölderlin für Heidelberg zu präsentieren. Wir freuen uns auf nächste Schritte in diese Richtung.

madame-kuvel.de

Vom Hölderlin-Trüffel ins Dunkle, ins Kino … der Film „Hälfte des Lebens“ (von 1985) wird gezeigt. Für mich auch eine Zeitreise in meine Jahre vor dem Studium in Berlin. Auch wenn mehr als die Hälfte meines Lebens her, war ich wieder hingerissen von diesen großartigen Schauspielerinnen und Schauspielern meiner Jugend. Was für ein Ulrich Mühe. Was für eine Jenny Gröllmann. Was für ein Michael Gwisdek. Was für ein gutes Drehbuch von Christa Kozik. Den Stoff 1985 in der DDR zu zeigen, heißt auf der Folie einer starren und unfreien Gesellschaft mit einer revolutionären Idee in dieser Geschichte zu spielen. Vertreten durch die Künstler, in diesem Fall durch unseren Friedrich Hölderlin, agieren – politisch unterschiedlich aktiv – die Freunde um Hölderlin und Hölderlin selbst. Dazu das große Liebesdrama um Susette und Friedrich. Eng verknüpft der Film diesen Strudel an Ereignissen und Emotionen, an Gedanken und Träumen. Somit das Zusammentreffen der glücklichsten Zeit mit Susette in diesem Sommer und Herbst 1796 in Bad Driburg, durch das Vorrücken der französischen Truppen veranlasst, und der versiegenden Begeisterung für die Revolution. Der Traum der Freiheit sah Hölderlin durch die Guillotine auf dem Place de la Concorde in Paris vernichtet. „Es ist fast nicht möglich, unverhüllt die schmutzige Wirklichkeit zu sehen, ohne selbst darüber zu erkranken.“ Die Suche nach einer neuen Mythologie wird beschrieben. Wer ist das ICH und was ist die WELT? Hölderlin fühlt sich zur Transformation berufen, als Dichter, als Apoll … und so schreibt er: „Wir müssen eine neue Mythologie haben. (…) Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.“ Von diesem Seelenzustand erzählt der Film, Schönheit und Vernichtung gehören zusammen, erstarrte Ordnung und Strukturen müssen zerbrechen. Eine apollinische Ordnung und dionysisches Chaos scheint für Hölderlin eine Lösung. Dennoch unlösbar … für Hölderlin … und für die gesellschaftlichen Diskurse der DDR um 1985 … wenige Jahre vor der friedlichen Revolution 1989 … glänzend erzählt. Natürlich ist der Film geprägt von der Erzählästhetik seiner Zeit.

Bewegt und angeregt gab es den gemeinsamen Wunsch danach „ins Offene“ zu gehen, zu spazieren … in die Natur … also ging eine kleine Gruppe um unsere skandinavischen Gäste durch die Altstadt, über die Alte Brücke, auf dem Schlangenweg zum Philosophenweg … nicht ohne einige wichtige geschichtliche Daten und Geschichten von Heidelberg zu erzählen. Das sonnige Wetter, der fließende Neckar, die Minverva auf der Alten Brücke, die Blicke auf das Heidelberger Schloss brachten uns die berühmten Texte über Heidelberg von Hölderlin sehr nah. Natürlich war die Hölderlin-Anlage unser Ziel … und dort auf den Bänken setzte sich die Gruppe und ich hatte das Vergnügen Hölderlin zu rezitieren und erläuternde Bemerkungen anzumerken.

In der Natur … zwischen Bäumen … mit Blick auf das Neckartal … da fühlte man sich den Texten und Hölderlin recht nah.

Meine Erläuterungen beschränkten sich auf Ansätze zu einer möglichen Interpretation seiner Texte, wobei Natur, Mythos, Gott, Revolution und Auftrag des Dichters mit seiner Poesie die wichtigsten Themenkomplexe waren. Etwas in seine Biografie eingebettet. Inspiriert und inhaltlich geprägt hat mich Wolfgang Heises Buch „Hölderlin – Schönheit und Geschichte“. Applaus auf und für Hölderlin am Ende … und sofort begann der Austausch über Hölderlins Bedeutung in unserer Zeit. Über die Schwierigkeit bei der Analyse seiner Texte, manchmal oder oft der Überforderung, aber auch der emotionale und fast musikalische Genuss seiner Dichtung. Hölderlins Sprache war auch für seine Zeit besonders, fast möchte man expressionistisch sagen.

Durch unseren Philosophen in der Gruppe angeregt ging es natürlich auch um den Anspruch des Dichters, des Künstlers. Um den Wert in einer/seiner Gesellschaft. Dabei kamen die Reibungen mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel immer wieder hervor. Aktuellere Bezüge zu Theodor W. Adorno wurden von Knut Saanum beschrieben. Um welche Freiheit geht es Hölderlin? Es ist nicht die politische oder ökonomische, sondern eine existenzielle Freiheit, die den Menschen mit seiner Natur versöhnt, das Göttliche in der Natur trifft, und ihre Schönheit in der Liebe erlebt. Echte Freiheit darf den Menschen nicht spalten in ICH und NICHT-ICH (denke Fichte) homo noumenon und homo phaenomenon (denke Kant), res cogitans und res extensa (denke Decartes). Hölderlins Freiheit kann nicht allein auf dem rationalen WILLEN des Menschen basieren, sondern müsste in seinem SEIN verwurzelt sein. Die Frage, wie kann in unserer Zeit der Wille zur Macht (im Sinne Nietzsches) in ein freies JA zum SEIN transformiert werden? Wie können wir uns der Begeisterung zur lebendigen Natur hingeben, wie können wir diese Begeisterung leben? Wie schaffen wir die Konvergenz von Geist und Natur, und somit der SCHÖNHEIT im Sinne Hölderlins für uns? „Eins zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden.“

In dieser Sprache beschreibt Hölderlin das HEN KAI PAN – das Ein und Alles.

Unser gedanklicher Spaziergang führte uns nach Neuenheim, wo bei Bier und regionalem Essen der philosophische Exkurs ins gesellige Jetzt überging.

Ein wunderbarer Austausch, anregend und mit Lust auf weitere Begegnungen mit Hölderlin und den „Helden Hölderlins“ in Heidelberg oder in der Welt.

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